Kirchplatz 2
Abbildung 2: Brot- und Feinbäckerei Missing mit Kolonialwarenladen um 1900 an der heutigen Königstraße Nummer 23. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Kirchplatz 2: Missing wie Messing – Die Kupferschläger aus Vlodrop
Missing wie Messing – Die Kupferschläger aus Vlodrop
Das Anwesen am Standort mit der derzeitigen Bezeichnung Kirchplatz 2 war während der ersten Jahrzehnte des 19. Jhds. Teil der weiträumigen Dreiseithofanlage des Johann Keysers. Darüber berichtet die Tafel der Brachter-Hausgeschichten, die an der ehemaligen Hofeinfahrt in der Königstraße hier um die Ecke angebracht ist.
Während sich die Brachterinnen und Brachter über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren häufig in der unmittelbaren Nachbarschaft vermählten, heirateten im Jahr 1802 Johann Keyers aus Walbeck die aus Erkelenz stammende Maria Catharina Beckmann hier in Bracht. Walbeck liegt etwa einen Fußmarsch von fünf bis sechs Stunden von Bracht entfernt in nördlicher Richtung. Erkelenz war zur damaligen Zeit in Richtung Süden ebenfalls in etwa sechs Stunden zu Fuß zu erreichen. Was das Paar bewogen hat, den Dreiseithof in Bracht zu übernehmen, bedarf weiterer Recherchen. Johann und Maria gehörten schon bald zu geachteten Brachter Bürgern, Johann war über viele Jahre Mitglied des Gemeinderates. Das Paar bekam fünf Kinder. Der Erstgeborene, Peter Johann, heiratete am 07. Mai 1828 in Bracht standesgemäß die 21jährige Maria Catharina Helena Jacobina Erckens. Die Eltern des Mädchens zeigten zur Zeit der Besetzung des Rheinlandes durch Frankreich, als Bracht zum Département de la Roer gehörte, ihre möglicherweise franzosenfreundliche Gesinnung, indem sie der 1807 geborenen Tochter den dritten Vornamen Jacobina gaben. Der Vorname war davor und danach hier nicht gebräuchlich. Der Schwiegersohn von Peter Johann und Maria Catharina Helena Jacobina war einer der späteren Brachter Mühlenerbauer Anselm Goswin Josef Thoer.
Herr Missing geht nach Bracht
Auch die drei nachfolgenden Töchter von Johann Keysers aus Walbeck und Maria Catharina Beckmann aus Erkelenz gingen Ehen mit jungen Männern aus der Nachbarschaft dieses Anwesens ein. Die Frauen nahmen die Nachnamen der Männer an und hießen Sieves, Optenplatz und Lackmanns. So geruhsam hätte es weitergehen können. Das jüngste Kind, die 1815 geborene Margaretha Catharina, hatte andere Pläne. Im Jahr 1833 traf die damals 18jährige Margaretha Catharina den damals 26jährigen Gerhard Wilhelm Missing. Er wurde 1807 in dem Dorf Vlodrop in der heutigen niederländischen Provinz Südlimburg geboren. Eine historische Quelle gibt als Berufsbezeichnung Kupferschläger an.
Der Kupferschläger wurde im Aachener Raum, also unweit von Vlodrop, Messingschläger genannt. Aachen war zu der Zeit führend als europäisches Messingzentrum. Gerhard Wilhelm Missing war der erste Vertreter dieses Nachnamens in Bracht. Das Paar heiratete in Bracht im Jahr 1834. Nur sechs Wochen später wurde der kleine Johann Gerhard Missing geboren. Die fortgeschrittene Schwangerschaft der jungen Braut muss zum Zeitpunkt der Trauung deutlich zu sehen gewesen sein. Ob der Druck des katholischen Milieus den Ausschlag gegeben hat, dass die Geburt in Erkelenz, vermutlich in der Obhut der Verwandten mütterlicherseits, erfolgte, ist fraglich. Es ist nicht überliefert, aus welchen wirtschaftlichen Verhältnissen Johann Gerhard Missing stammte. Zwar existierte bereits seit der frühen Neuzeit ein berufsständischer Zusammenschluss der Kupferschläger (Messingschläger) in und um Aachen und Stolberg. Da aber Johann Gerhards Vater ein Ackerer, das heißt ein Landwirt war, ist es unwahrscheinlich, dass es Johann Gerhard bereits in jungen Jahren zu beruflichem Erfolg im Messinghandwerk gebracht hatte. Viel wahrscheinlicher ist, dass der junge Mann bei einem Kupferschläger oder Kessler im südlichen Maasgebiet arbeitete und die Erzeugnisse des Messinghandwerks wie Töpfe, Kessel, Pfannen und Schüsseln an die Kundschaft auch bis nach Bracht auslieferte. Er wird mit Pferd und Karren unterwegs gewesen sein, vielleicht ging er auch zu Fuß. In einem Tagesmarsch konnte die Strecke von Vlodrop nach Bracht erwandert werden. Das junge Paar, das „heiraten musste“, bekam sechs Söhne, darunter auch den am 17.02.1840 geborenen Peter Anton Missing, den Urgroßvater von Helene Beskes. Sie ist die derzeitige Besitzerin dieses Anwesens am Kirchplatz 2. Der erste Brachter Herr Missing, Gerhard Wilhelm aus Vlodrop, verstarb bereits mit 41 Jahren. Die sechs Söhne heirateten Frauen aus Bracht, Breyell, Dülken und Beesel. Der Name Missing verbreitete sich in den darauffolgenden Jahrzehnten in und um Bracht. Offensichtlich blieben sie bis zum heutigen Tag durchgehend Besitzer dieses Anwesens, ab 1951 allerdings nur noch in den Geburtsnamen der verheirateten Missingfrauen erkennbar.
Erwähnt werden soll hier auch der am 19. Juni 1844 in Bracht geborene Sohn des Brachter Stammvaters Missing. Das Kind wurde auf den Namen Peter Heinrich getauft. Dieser Sohn engagierte sich in der Kommunalpolitik bis zu seinem Tod am 12. Januar 1933. Als junger Mann nahm er an den Einigungskriegen 1866 und 1870/71 gegen Österreich und Frankreich teil. Der Anblick des Leids der Soldaten und des Elends der Kriegsheimkehrer mit physischen und psychischen Verletzungen ohne entsprechende soziale und psychologische Unterstützung mag den Ausschlag gegeben haben, dass Peter Heinrich im Jahr 1868 den Kriegerverein Bracht gründete. Damit brachte er die Wertschätzung für einfache Soldaten und Kriegsveteranen aus Bracht zum Ausdruck. Das mutet heute befremdlich an, ist aber vor dem Hintergrund der drei Kriege innerhalb von wenigen Jahren nachvollziehbar. Peter Heinrich Missing wurde 1. Beigeordneter der Gemeinde Bracht und war mit 89 Jahren der älteste Beigeordnete Deutschlands. Zu seinem 80. Geburtstag wurde er zum Ehrenbürger der Gemeinde Bracht ernannt. Er wohnte mit seiner Frau Anna Maria, geb. Terporten in der heutigen Marktstraße 28.
Der Bäcker Heinrich Wilhelm Missing
Abbildung 1: Baugenehmigung für Aegidius Beckers am Kirchplatz/Erkelenz Kaldenkirchner Bezirksstraße (heutige Königstraße) wird erteilt. Bildnachweis: Gemeindearchiv Bracht, Nr. 917, Bl. 105, Foto: Freier
Am 21.02.1889 wurde Herrn Aegidius Beckers an diesem Standort die Baugenehmigung für die Errichtung eines neuen Backofens und Schornsteins erteilt. Aegidius Beckers war seit 1871 in Bracht mit Anna Catharina Klaps verheiratet und der Enkel von Johann Peter Theodor Beckers und Maria Sybilla Thoer.
Abbildung 2: Brot- und Feinbäckerei Missing mit Kolonialwarenladen um 1900 an der heutigen Königstraße Nummer 23. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Die Backstube mag der Vorläufer der Bäckerei Missing nach 1900 gewesen sein. Ob Aegidius Beckers und Heinrich Wilhelm Missing hier gemeinsam mit ihren Familien wohnten, ist derzeit nicht bekannt. Die Bäckerei Missing befand sich unmittelbar auf der Ecke Kirchplatz/Königstraße. Heinrich Wilhelm Missing verkaufte neben Brot auch andere Waren des täglichen Bedarfs.
Abbildung 3: Heinrich Wilhelm Missing und Anna Helena Raeven mit ihren beiden Töchtern Maria Sibilla und Helene. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Er hatte im Jahr 1900 Anna Helena Raeven aus Swalmen geheiratet und setzte damit die Familientradition fort, Bräute auch außerhalb des Wohnorts zu freien. Von den fünf Kindern des Paares starben drei im Säuglingsalter. Die 1903 geborene Tochter Maria Sibilla, die Mutter der derzeitigen Besitzerin des Anwesens, heiratete den Wirt und Landwirt August Meerts. Die beiden betrieben als Pächter die Gastwirtschaft in der damaligen Adolf-Hitlerstraße 7 in Bracht, der heutigen Marktstraße. Die jüngere Tochter Helene heiratete Josef Erkes. Das Paar betrieb die Bäckerei Missing danach zusammen mit Helenes Vater am Standort Königstraße 23 weiter. Heinrich Wilhelm verstarb am 19. Februar 1951 im Alter von 82 Jahren.
Abbildung 4: Der große Innenraum der Bäckerei um 1950. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Durch die Entstehung der Westdeutschen Tonindustrie hier in der Region erlebte auch Bracht nach 1900 einen bemerkenswerten Aufschwung von Handel und Gewerbe. In Bracht existierten zwischen 1948 und 1953 allein neun Bäckereien. Es waren die Bäcker Heinrich van Crüchten, Werner Heimes, Peter Huppertz, Heinrich Kessels, die hier vorgestellten Missing/Erkes, Johann Missing, Cornelius Neelen, Willi Veken und Wilhelm Wolters. Die Bäckerei Heinrich Wilhelm Missing/Erkes erzielte in dem Zeitraum Erträge zwischen 5.227 DM (Deutsche Mark, Zahlungsmittel der Bundesrepublik Deutschland von 1948 bis 2001) und 23.200 DM im Jahr und gehörte damit zu den ersten Bäckereien am Ort. Im Vergleich dazu verdiente ein Arbeiter in einer Tonwarenfabrik im Juni 1952 genau 320,59 DM. Ein Elektroherd, für die damalige Zeit eine innovative Anschaffung, kostete 320 DM, also den Monatslohn eines Arbeiters.
Porzellan und Glas – ein zweites Geschäft eröffnet
Abbildung 5: Die Aufnahme der Fassade lange vor dem Umbau zeigt die typische kleinteilige Anordnung der Fenster aus dem Entstehungszeitraum der Hofanlage. Bildnachweis: Privatarchiv Walter Feyen, Bracht
Abbildung 6: Nach 1952 weist die Fassade die für die Umbauzeit typischen vergrößerten Fensteröffnungen sowohl in Wohnräumen als auch im Ladengeschäft im Erdgeschoss auf. Auch der umlaufende Scheuersockel wurde entfernt. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Die Bäckerei Missing wurde nach dem Tod von Heinrich Wilhelm Missing noch bis ins Jahr 1967 betrieben, dann übernahm Horst Appel das Geschäft. Das Todesjahr 1951 des Gründers der Bäckerei hatte für das Anwesen an diesem Standort weitreichende Konsequenzen. Die erstgeborene Tochter Maria, die noch als Pächterin die derzeitigen Ratsstuben in der umbenannten Marktstraße betrieben hatte, trat ihr Erbe an und ließ die Räumlichkeiten am hiesigen Kirchplatz 2 komplett von innen und außen umbauen.
Abbildung 7: Maria Meerts, geb. Missing meldet ihren neuen Gewerbebetrieb an. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Abbildung 8: Helene Beskes, hier um 1950, führte das gediegene Geschäft der Mutter weiter. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Maria Meerts, geborene Missing, eröffnete im Jahr 1952 am Kirchplatz 2 ein Glas- und Porzellangeschäft, das ihre Tochter Helene Beskes, die derzeitige Besitzerin des Anwesens, bis 2013 weiterführte.
Abbildung 9: Das Porzellangeschirr wurde liebevoll auf gedeckten Tischen vor einem Vorhang präsentiert. Bildnachweis: Privatbesitz Helene Beskes
Wie viele hochwertige Gegenstände des täglichen Gebrauchs, war Markenporzellan ab den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts immer schwerer verkäuflich. Führende Hersteller wie Rosenthal, Wedgewood u.a. meldeten Konkurs an. Die Strukturkrise des Porzellans machte auch vor diesem kleinen Geschäft nicht halt. Das schöne geschwungene Fensterglas ist ein Original aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts und erinnert an die Blütezeit des Brachter Geschäftslebens.
Bracht 2016
Anna Freier
Quellennachweis:
Interview mit Familie Beskes, 06.08.2016; Totenzettel, Heiratsurkunden, private Dokumente der Familie Beskes; die Angaben zum Lohn eines Arbeiters in der Tonwarenfabrik und die Rechnung eines nach Bracht gelieferten Elektroherdes finden sich auf Originaldokumenten aus der Heimatsammlung Wilfried Füsers, Bracht; Kreisarchiv Viersen (KAV), Gemeindearchiv Bracht (GA Bracht), Nr. 1996, Bl. 5-6, die Akte beinhaltet die Aufstellung der zur Gewerbesteuer herangezogenen Gewerbetreibenden in Bracht von 1948 bis 1960; die Angaben zur Genealogie/Familienforschung vor 1867 entstammen der Ende 2016 publizierten Veröffentlichung von Dr. Karl Thoer, Viersen-Boisheim, in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Viersen.
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